Sehnsucht in Sangerhausen
Romantische Sehnsucht, ironisch dargeboten von Julian Radlmaier
Gerade hat Mascha Schilinski mit „In die Sonne schauen“ die Zeiten vom Kaiserreich bis in die Gegenwart im Resonanzraum eines altmärkischen Bauerngehöfts verschmolzen, da kehrt Julian Radlmaier nach „Selbstkritik eines bürgerlichen Hundes“ (2017) und „Blutsauger“ (2021) mit seinem dritten Langspielfilm zurück und lässt im Raum um Sangerhausen den Geist der Romantik in der Gegenwart nachhallen.
Das heißt auch: den Geist von Lotte, die eingangs als Bedienstete die Scheiße im Nachttopf von Hardenberg alias Novalis entsorgt und die Dichterstiefel schrubbt. Die romantische, fantasievolle Sehnsucht treibt indes auch sie trotz des Klassenunterschiedes um, wenngleich keine blaue Blume, sondern ein blauer Stein ihr zum Ausdruck dieses Gefühls gereicht. Diesen gibt sie einem Schausteller, einem Steinschlucker, zum Schlucken dar: Beginn einer Liebesbeziehung, die mit einem Pferdediebstahl zwecks Reise nach Frankreich, wo mit der Revolution die Gleichheit ausgebrochen sei, tödlich enden wird.
Der blaue Stein indes wird – wie weitere Leitmotive, die teils auf die Ferne, etwa Ägyptens, abzielen – vielfach wiederkehren in den Episoden der Gegenwart, wenn es eine so frisch wie unglücklich verliebte Reinigungskraft mit Ausbruchsfantasien, eine iranische Influencerin mit Asylstatus und einen koreanischstämmigen Tourleiter mit Diskriminierungserfahrungen auf ihren Harzreisen zusammenführen wird … Die Sehnsucht der Romantik bürstet Radlmaier dabei gewohnt ironisch und politisiert – Bourdieu- und Rancière-gestählt – gegen den Strich.